Die jüngste Entwicklung an den Börsen verdeutlicht ein bekanntes, aber derzeit besonders markantes Phänomen: Die „Mauer der Angst“, an der sich ein Bullenmarkt emporarbeitet, ist aktuell außergewöhnlich hoch. Trotz geopolitischer Spannungen, protektionistischer Maßnahmen und einer spürbaren Abkühlung am Arbeitsmarkt zeigen die Aktienmärkte eine bemerkenswerte Widerstandskraft.
1. Tarifeffekte: Wo bleibt der Einbruch?
Seit dem 1. August gelten in den USA neue, umfassende Importzölle auf Waren aus über 60 Ländern – mit einer durchschnittlichen Belastung von 18,6 %. Dies ist der höchste Zollsatz seit dem Smoot-Hawley-Tarifgesetz von 1930/33. Besonders betroffen sind Industrieprodukte, Elektronik und Konsumgüter.
Während der Dow Jones Industrial Average unter den Belastungen und schwachen Konjunkturdaten nachgab, konnte der technologieorientierte Nasdaq Composite weiter steigen und sogar neue Rekorde erreichen. Eine entscheidende Rolle spielten hier politische Signale, die Ausnahmen für Schlüsselindustrien wie Halbleiter in Aussicht stellen, sowie milliardenschwere Re-Investitionen in die US-Produktion. Beispiel: Apple verlagert die Fertigung spezieller Display-Gläser nach Kentucky, um Zöllen zu entgehen und von Förderprogrammen zu profitieren.
Trotz globaler Unsicherheiten – darunter der Konflikt im Nahen Osten, Strafzölle gegen Brasilien sowie handelspolitische Spannungen mit der EU – konnte der S&P 500 seit seinem Tief im April um rund 25 % zulegen. Die Rally begann, als die zuvor angedrohten Zölle Realität wurden, was Anleger offenbar bereits eingepreist hatten.
2. Jobwachstum: Das „Stunning“ der Revisionen
Die Lage am US-Arbeitsmarkt ist deutlich eingetrübt. Im Juli wurden lediglich 73.000 neue Stellen geschaffen – weit unter den Erwartungen. Noch gravierender sind die massiven Abwärtsrevisionen der Vormonate: Insgesamt wurden 258.000 Stellen nach unten korrigiert, womit der Arbeitsmarkt die schwächste Dynamik seit dem unmittelbaren Pandemiejahr 2020 verzeichnet.
Das Stellenwachstum konzentriert sich auf das Gesundheitswesen und soziale Dienstleistungen. Dagegen bauen Industrie, professionelle Dienstleistungen und der öffentliche Sektor weiter Beschäftigung ab. Belastend wirken:
- ein restriktiver Sparkurs der aktuellen US-Regierung,
- strengere Einwanderungsregelungen,
- der demografische Druck durch das Ausscheiden der Babyboomer-Generation.
Diese Faktoren bremsen nicht nur das Beschäftigungswachstum, sondern auch den privaten Konsum, der traditionell ein zentraler Wachstumstreiber der US-Wirtschaft ist.
3. Unternehmensdaten: Besser als die Angst
Die eigentliche Triebfeder des Bullenmarktes sind die Unternehmenszahlen. 67 % der im S&P 500 gelisteten Unternehmen übertrafen im zweiten Quartal die Gewinnerwartungen – durchschnittlich mit einem Gewinnplus von 8,6 % gegenüber dem Vorjahr.
Besonders auffällig ist die Dominanz weniger Mega-Caps: Fünf Technologie- und KI-nahe Konzerne (darunter Nvidia, Microsoft, Apple) stellen einen überproportionalen Anteil an der Gesamtmarktkapitalisierung. Ihre überdurchschnittlichen Ergebnisse sorgen für Auftrieb, auch wenn die Breite der Marktteilnahme begrenzt bleibt.
Im Juli erlebte der S&P 500 sogar eine „perfect week“ – fünf Handelstage in Folge mit neuen Allzeithochs.
4. Inflation: Leichte Bewegung, erhöhte Aufmerksamkeit
Der US-Verbraucherpreisindex (CPI) stieg im August voraussichtlich um 2,8 % gegenüber dem Vorjahr (Juli: 2,7 %). Die Inflation bleibt damit moderat, doch die Ursache des jüngsten Anstiegs ist klar: höhere Importpreise infolge der neuen Zölle.
Marktteilnehmer achten aktuell weniger auf die absolute Inflationshöhe als auf die Reaktion der US-Notenbank (Fed). Sollten sich die Importpreise weiter durch die Lieferketten fressen, könnte die Fed gezwungen sein, ihre geldpolitische Zurückhaltung zu überdenken.
Wichtige Indikatoren Juli/August 2025
Indikator | Wert | Tendenz |
---|---|---|
S&P 500 | +2,2 % im Juli, +25 % seit April | bullish, Rekordstände |
US-Arbeitsmarkt (Juli) | +73.000 Jobs, -258.000 Revision | schwach, rückläufig |
US-Tarife | Ø 18,6 % auf Importe | Rekordhoch, volatil |
Inflationsrate (CPI) | 2,8 % (August), 2,7 % (Juli) | leicht steigend, moderat |
Unternehmensgewinne Q2 | +8,6 % YoY, > 67 % beats | stark, Tech & KI im Fokus |
5. Marktpsychologie: Urlaub, Nerven und selektive Risikobereitschaft
Die Sommermonate bringen traditionell geringere Handelsvolumina. Dies wirkt einerseits stabilisierend, da weniger Marktteilnehmer hektisch reagieren. Andererseits begünstigt die geringe Liquidität plötzliche, scharfe Kursbewegungen.
Auffällig ist derzeit die Diskrepanz zwischen institutionellen und privaten Anlegern: Während Profis eher defensiv agieren, investieren Privatanleger mutiger, getrieben von Kursrekorden und FOMO-Effekten („Fear of Missing Out“). Parallel dazu halten sich am Anleihemarkt Sorgen über die US-Staatsverschuldung und die Glaubwürdigkeit der Fed hartnäckig.
6. Handlungsempfehlung: Selektion vor Breite
Die Datenlage zeigt klar: Zölle, Arbeitsmarktschwäche und geopolitische Risiken sind reale Belastungsfaktoren. Doch starke Unternehmensgewinne und die anhaltende Liquidität im Markt überlagern diese Risiken derzeit.
Für Anleger bedeutet das:
- Benchmarks beobachten: S&P 500, 10-jährige US-Treasuries, US-Dollar, Gold.
- Selektiv investieren: Zyklische Werte, Technologie, Gold als Diversifikationsanker.
- Marktreaktionen analysieren – nicht nur die Rohdaten. Oft ist die Interpretation durch die Marktteilnehmer entscheidender als die Nachricht selbst.
Fazit:
Trotz einer Gemengelage aus geopolitischen Konflikten, protektionistischer Handelspolitik und einem schwächelnden Arbeitsmarkt zeigt sich die US-Börse widerstandsfähig. Die „Mauer der Angst“ ist hoch, doch der Bullenmarkt erklimmt sie bislang mit erstaunlicher Leichtigkeit. Wachsamkeit und Flexibilität bleiben jedoch das Gebot der Stunde – denn die Risiken sind nicht verschwunden, sondern nur vorübergehend in den Hintergrund getreten.